Das Wir gewinnt

Verkehrswende für ALLE

Der Verkehr ist die zentrale Herausforderung im Klimaschutz. Das ist bekannt, und deshalb bemüht sich die Politik um seine umweltgerechtere Gestaltung. In der öffentlichen Debatte wird häufig darauf hingewiesen, dass bei der notwendigen Transformation hin zu einem zukunftsfähigen Verkehrssystem die soziale Gerechtigkeit nicht „unter die Räder“ geraten darf. Selbstverständlich muss der soziale Aspekt berücksichtigt werden, allerdings ist das kein Widerspruch – im Gegenteil. Es ist an der Zeit, die Diskussion vom Kopf auf die Füße zu stellen. Denn bei der Debatte wird häufig stillschweigend angenommen, dass das aktuelle Verkehrssystem in Deutschland zu sozial gerechten Ergebnissen führt. Die Gerechtigkeitslücke im Verkehr ist jedoch enorm und hat viele Facetten. 

Straßenverkehr im Status quo – weder enkeltauglich noch sozial 

Das Konzeptpapier „Verkehrswende für ALLE“ des Umweltbundesamtes erläutert diese Problematik und stellt verschiedene Gerechtigkeitslücken im aktuellen Verkehrssystem vor (Verkehrswende für ALLE, 2020, von Kilian Frey, Andreas Burger, Katrin Dziekan, Christiane Bunge und Benjamin Lünenbürger, Umweltbundesamt). Beispielsweise müssen zukünftige Generationen die Lasten und Auswirkungen heutiger und vergangener CO2-Emissionen schultern, auch dann, wenn sie selbst keine oder kaum noch Treibhausgase emittieren werden. Dies ist ein gravierender Verstoß gegen das Prinzip der intergenerativen Gerechtigkeit (Umweltbundesamt 2019). Weiterhin herrscht ein Mangel an Umweltgerechtigkeit: Bundesweit repräsentative Studien zeigen, dass Menschen mit niedrigen Einkommen tendenziell stärker von verkehrsbedingten Luftschadstoffen und Lärm betroffen sind als sozial besser gestellte Gruppen (Bunge / Katzschner 2009, Laußmann und andere 2013, Destatis 2019a). Damit wird das Verursacherprinzip verletzt. Berechnungen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt zeigen, dass mit zunehmendem Einkommen der Haushalte auch die verkehrsbedingten CO2-Emissionen pro Kopf ansteigen (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt 2019). Kombiniert mit dem verletzten Verursacherprinzip offenbart dies eine doppelte Gerechtigkeitslücke: Haushalte mit niedrigen Einkommen sind häufiger von Mobilitätsarmut betroffen als Haushalte mit höheren Einkommen und sie leiden zugleich mehr an verkehrsbedingten Umweltbelastungen (Rammler / Schwedes 2018). Darüber hinaus finden wir eine ungerechte Raumverteilung vor. Wem gehört eigentlich die Stadt?

Dem*der Pkw-Fahrer*in oder dem*der Rollstuhlnutzer*in? Beiden natürlich. Allerdings verbraucht der motorisierte Individualverkehr einen vergleichsweise sehr großen Anteil des Straßenraums. Das ist ungerecht und beeinträchtigt die Aufenthaltsqualität insbesondere in Städten. Eine Umwidmung der Flächen würde zu einer höheren Aufenthalts- und Wohnqualität führen, von der alle profitieren würden, vor allem diejenigen, die (freiwillig oder gezwungenermaßen) zu Fuß, per Rad, mit Rollator oder Rollstuhl unterwegs sind. Schließlich verstärken auch häufig umweltschädliche Subventionen im Verkehr die soziale Schieflage, obwohl sie ausgleichend wirken sollten: beispielsweise Steuerbefreiungen im Flugverkehr oder das Dienstwagenprivileg. 

 

Teilhabe für ALLE? 

Ein Verkehrssystem muss eine gleichberechtigte und barrierefreie Teilhabe für alle sicherstellen. Derzeit herrscht keine Teilhabe für alle: Sowohl Kinder als auch ältere und beeinträchtigte Menschen sind benachteiligt. Für diese Gruppen spielt der Fußverkehr eine wichtige Rolle. Daher sollten Fußwege attraktiv, umwegefrei, sicher und barrierefrei sein (Umweltbundesamt 2018). Die allgemein notwendige Barrierefreiheit im öffentlichen Raum sowie im Nah- und Fernverkehr ist auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels dringend notwendig (Altenburg und andere 2009). Von Barrierefreiheit profitieren nicht nur Menschen mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen und Kinder, sondern alle (Deutscher Städtetag 2018). Mindestgehwegbreiten werden in Kommunen zwar meist eingehalten, durch Falschparker jedoch oft dem Fußverkehr entzogen. Als Standardbreite hat sich 1,5 Meter etabliert, nach Meinung von Fachleuten ist aber erst ab circa 2,5 Metern Breite eine ungehinderte Begegnung auf Gehwegen möglich (Umweltbundesamt 2018). Mit dem Thema Barrierefreiheit eng verbunden sind Fragen der Verkehrssicherheit (Verkehrsclub Deutschland 2019a). Im Jahr 2018 starben in Deutschland 458 Fußgänger*innen im Verkehr, oft bei Unfällen mit Pkw oder Lkw. Dies entspricht über 15 Prozent der insgesamt 3.024 Verkehrstoten (Destatis 2019b). Mehr als die Hälfte der getöteten Fußgänger*innen war 2018 über 65 Jahre alt (Verkehrsclub Deutschland 2019b). Die Zahl der Toten und Verletzten im Straßenverkehr kann (schnell) reduziert werden, wenn es der Gesellschaft wichtig ist. Vermiedene Mobilität – das unsichtbare Problem Die Aktion Mensch betrachtet im Inklusionsbarometer Mobilität 2022 verschiedene Mobilitätsdimensionen. In den Mobilitätsdimensionen „Zeit und Kosten“ sowie „Soziale Aspekte“ fällt auf: Menschen mit einer Beeinträchtigung vermeiden häufiger Wege als Menschen ohne Beeinträchtigung. Warum sehen wir nicht öfter Menschen mit Rollstuhl und Rollator (oder mit kleinen Kindern an der Hand) bei einem Querungsversuch am Straßenrand? Viele versuchen es erst gar nicht oder haben es bei größeren Straßen und schnellem Verkehr aufgegeben. Besonders für vulnerable Gruppen ist eine Straßenquerung unangenehm. Sie wollen einerseits kein Verkehrshindernis sein, andererseits haben sie schlichtweg Angst. Also überqueren sie die Straße nicht, meiden diese als Aufenthaltsort und ziehen sich aus dem Straßenraum zurück. Größere Straßen sind für viele Menschen eine „gefühlte“ Barriere, für vulnerable Gruppen ohne Auto jedoch eine „echte“ Barriere. Vermeidungsstrategien schränken die Mobilität ein, unsichtbar, denn wir sehen die vermiedene Mobilität nicht. Das Problem der Barriere ist also größer, als es erscheint. Vulnerable Gruppen schützen – gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken Das Umweltbundesamt empfiehlt den Ausbau von Öffentlichem Verkehr – barrierefrei. Das gleiche gilt für den Rad- und Fußverkehr. Das ist gesund, umweltfreundlich, klimaschonend, günstig, schnell auf kurzen Distanzen und eine tragende Säule der Verkehrswende. Das derzeitige Verkehrssystem weist in verschiedener Hinsicht eine soziale und ökologische Schieflage auf. Mehr Anreize für den Klima- und Umweltschutz sowie die Beseitigung sozialer Schieflagen gehen jedoch oft Hand in Hand. Starke Zivilgesellschaften zeichnen sich durch einen großen gesellschaftlichen Zusammenhalt aus. Inklusion ist dabei essenziell. Starke Gesellschaften erkennt man auch am Umgang mit ihren vulnerabelsten Mitgliedern. Deutschland ist geprägt von einer starken Gesellschaft, in der bereits in vielen Bereichen die Bedarfe verschiedener Personengruppen berücksichtigt werden. Im Verkehrssystem besteht noch deutlich Luft nach oben. Deshalb müssen wir stärker darauf hinwirken, dass alle angstfrei mobil sein können.

Großstadt-Bewohner*innen wollen weniger Autos Die Ergebnisse der Dimension Umwelt, Klima und Nachhaltigkeit lassen sich außerdem anhand der Ortsgröße analysieren. So gibt es in Metropolen in der Regel mehr Alternativen sich fortzubewegen als im ländlichen Raum. Dies ermöglicht Metropolbewohner*innen, auf das Auto zu verzichten und stattdessen den ÖPNV zu nutzen oder mit dem Fahrrad zu fahren. Für Menschen aus ländlichen Gebieten sind diese Alternativen oft nicht möglich, sodass der private Pkw die einzige verlässliche Fortbewegungsmöglichkeit bleibt. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass Menschen in Metropolen Möglichkeiten begrüßen, die den privaten Autoverkehr vor Ort reduzieren können. Besonders unter Menschen mit Beeinträchtigung lässt sich ein klarer Trend erkennen: Zwei Drittel der in Metropolen lebenden Menschen mit Beeinträchtigung (63 %) wünschen sich, dass sich die Politik für ein besseres öffentliches Verkehrsnetz einsetzt, sodass der Autoverkehr reduziert wird. In ländlichen Gebieten stimmen nur 46 Prozent dieser Aussage zu. Auch für die Innenstädte ist dieses Muster zu beobachten. Metropolbewohner*innen mit Beeinträchtigung stimmen häufiger der Aussage zu (38 %), die Innenstädte bis auf bestimmte Ausnahmen komplett für den privaten Autoverkehr zu sperren. Nur gut ein Viertel (26 %) der Menschen mit Beeinträchtigung aus ländlichen Gegenden ist dieser Meinung. Die Ergebnisse zeigen nicht, ob dieser Beurteilung ein Klimaschutz-Gedanke zugrunde liegt oder ob die befragten Menschen mit Beeinträchtigung aus anderen Gründen den Autoverkehr eindämmen möchten. Insgesamt bestätigen die Antworten zum Thema Nachhaltigkeit vor allem, dass Menschen unabhängig von einer Beeinträchtigung sowie altersübergreifend vergleichbare Einstellungen gegenüber nachhaltiger Mobilität haben. Der Wohnort der Befragten, ob sie sich eher städtisch oder ländlich bewegen und somit auf Verkehrsalternativen zurückgreifen können, scheint bei nachhaltiger Mobilität hingegen eine größere Rolle zu spielen. Bewohner*innen von Metropolen sprechen sich häufiger für Möglichkeiten aus, die den privaten Autoverkehr vor Ort eindämmen.